- Goethe: Das Spätwerk: Ästhetisch-ethische Grundformeln
- Goethe: Das Spätwerk: Ästhetisch-ethische GrundformelnDas Quartett der Weimarer Klassiker zerbrach. 1803 starb, seit langem eher Dissident, Herder, 1805 Schiller, 1813 Wieland. Der Tod Schillers traf Goethe schwer: »Ich. .. verliere nun einen Freund und in dem selben die Hälfte meines Daseins«. Die politische Lage verschärfte die Krise. Der Friede, den Sachsen-Weimar seit 1795 genießen konnte, war zu Ende. Die für Preußen vernichtende Niederlage von Jena und Auerstedt (1806) bedrohte nicht nur Goethe persönlich - Marodeure drangen in sein Haus ein -, sondern auch die Existenz des mit Preußen verbündeten Herzogtums. Der geschichtliche Boden schwankte. Die Bewunderung Goethes für Napoleon, dem er auf dem Erfurter Fürstentag 1808 auch persönlich begegnet ist, hat Züge einer Kompensation. Die beunruhigenden Verhältnisse riefen Sorgen um das eigene Werk wach und ließen kein »Zaudern« mehr zu. Für eine neue Werkausgabe wurden »Faust I« und die »Farbenlehre« fertig gestellt. Die naturwissenschaftlichen Arbeiten boten Zuflucht vor der Willkür der Geschichte. Seit 1809 meldeten sich autobiographische Pläne.Der Roman »Die Wahlverwandtschaften« (1809) siedelt die Zeitkrise in den nur scheinbar abgelegenen Bezirk adligen Landlebens an. Zeitdiagnose und Naturphilosophie greifen hier ineinander. Die Gesetzlichkeit und Notwendigkeit der »einen Natur«, sonst gefeiert, dringen jetzt zerstörend in »das Reich der heitern Vernunftfreiheit« ein. Mithilfe der »chemischen Gleichnisrede« von der elementaren Attraktion tastet sich der Roman an die romantische »Nachtseite der Naturwissenschaft« heran: In der Figur der Ottilie bündelt sich der Bann der Natur, mit deutlichen Bezügen zum zeitgenössischen Sensationsphänomen des Magnetismus und Somnambulismus. Ottilie gegenüber steht der Willkürliche par excellence, der Lebensdilettant Eduard. Der »Wilhelm Meister« hatte die Konstellation von Notwendigkeit und Willkür noch zugunsten der Vernunft entschieden, die den Menschen zum »Gott der Erde« macht. Nunmehr nimmt die Naturnotwendigkeit dämonische Gewalt an, der sich Ottilie nur durch eine Entsagung zum Tode entziehen kann. Wird damit das klassische »Gedenke zu leben« widerlegt? Oder stellt der Roman aus klassischer Distanz eine spezifisch romantische Tragödie dar? Trotz mancher Annäherung an die Romantiker blieb Goethes Verhältnis zur Romantik gespannt.Gern sagte der alternde Goethe, er werde sich selbst historisch. Zeugnis dafür ist die Wende zur Autobiographie. Seit 1811 arbeitete Goethe an »Dichtung und Wahrheit«, 1816/17 und 1829 erschien die »Italienische Reise«. Gegenüber Eckermann erklärte er: »Als ich achtzehn war, war Deutschland auch erst achtzehn, da ließ sich noch etwas machen«. Bei aller Ironie verweist diese Äußerung doch zugleich auf das Bildungsgesetz, das der Autobiograph Goethe verfolgt. Gegen die Innenschau der subjektiven Bekenntnisse nach dem Muster des Augustinus oder Rousseaus stellt Goethe die Wechselbeziehung von Subjekt und Welt: »Denn dieses scheint die Hauptaufgabe der Biographie zu sein, den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen, und zu zeigen, inwiefern ihm das Ganze widerstrebt, inwiefern es ihn begünstigt«. So verbindet sich die Entwicklung des Individuums Goethe mit der politischen, literarischen und theologischen Geschichte seiner Zeit. Ob anziehend oder abstoßend, alles wirkt fördernd und »begünstigend« auf das weltoffene Subjekt. Selbst das Dämonische, ein Phänomen, das Goethe insbesondere an Napoleon erkannte, »eine der moralischen Weltordnung, wo nicht entgegengesetzte, doch sie durchkreuzende Macht«, beweist seine Gunst, sofern es ihn schließlich aus den Frankfurter Wirnissen nach Weimar führt. Mit diesem Aufbruch endet »Dichtung und Wahrheit«.Eine verjüngende poetische Lust ergriff Goethe in der Begegnung mit dem »Diwan« des persischen Dichters Hafis. Die Freude am heiteren Formelwesen des Orients, den Goethe wie schon Herder als Ursprungsort der Poesie verstand, verband sich mit den Glückserfahrungen der Reisen an Main und Neckar und der Liebe zu Marianne von Willemer. Das Resultat sind die zwölf zyklisch geordneten Bücher des »West-östlichen Divan« (1819). »Hegire« nennt Goethe das Eröffnungsgedicht - nach der Hidjra (= Auswanderung) des Mohammed von Mekka nach Medina - und bezeichnet so die eigene Flucht aus der Gegenwart in den »reinen Osten«, eine Art Wiedergeburt wie in Italien.Gegenüber Sulpiz Boisserée bekundet der 77-jährige: »als ethisch-ästhetischer Mathematiker muss ich in meinen hohen Jahren immer auf die letzten Formeln hindringen, durch welche ganz allein mir die Welt noch fasslich und erträglich wird.« Goethes Altersweisheit wählte dafür besonders gern die Form von Maximen und Reflexionen. Sie erschienen in den naturwissenschaftlichen Heften, aber auch als integrierender Bestandteil der Romane: »Aus Ottiliens Tagebuche«, »Betrachtungen im Sinne der Wanderer«, »Aus Makariens Archiv«. Ebenfalls auf spruchhafte oder symbolische Weltformeln zielt die Alterslyrik. Die bedeutendsten Stücke finden sich in der Gedichtgruppe, die Goethe unter dem Titel »Gott und Welt« zusammenfasste: »Prooemion«, »Urworte. Orphisch«, »Eins und Alles«, »Vermächtnis«.Die beiden Großwerke, die Goethe bis in die letzten Jahre beschäftigten, reichen in ihren Ursprüngen bis in die Siebzigerjahre des 18. Jahrhunderts zurück: »Wilhelm Meisters Wanderjahre« und der zweite Teil des »Faust«. 1829 wurde die zweite Fassung der »Wanderjahre« abgeschlossen. Die Reinschrift von »Faust II« versiegelte Goethe 1831; der Text wurde erst nach seinem Tode gedruckt. Wilhelm Meister und Faust sind Komplementär-, wenn nicht Kontrastfiguren. Beide nehmen es mit dem modernen Weltzustand auf, den Goethes symbolischer Realismus hellsichtig heraufziehen sieht. Beide Werke sprengen in ihrer formalen Kühnheit, für die Goethe das Prinzip der »einander gegenüber gestellten und sich gleichsam in einander abspiegelnden Gebilde« anführt, alle traditionellen Gattungsschranken. Die Struktur bestimmen nicht kontinuierliche Verläufe, sondern repräsentative Bezirke, die das Geschehen durchläuft: in den »Wanderjahren« die fromme Familie Sankt Josephs des Zweiten, die Bergwelt Montans, das Reformgut des Oheims, der Kreis Makariens, die Pädagogische Provinz, das Handwerkswesen der Spinner und Weber, der Auswandererbund; im »Faust« die krisenhafte Gesellschaft des Kaiserhofs, die »Klassische Walpurgisnacht« als Raum der ewig umbildenden und zeugenden Natur, Sparta als Begegnungsort von Antike (Helena) und Moderne (Faust), der Kampf des alten Kaiserreichs gegen seinen Zerfall, das Kolonisations- und Kanalprojekt Fausts. In beiden Fällen tritt der Held, das Subjekt, über weite Strecken ganz zurück. Erst im fünften Akt beherrscht wieder das mächtige Ich, die Entelechie, Fausts die Szene, im neuzeitlichen Gestus der technischen Macht, doch immer noch im magischen und deshalb zerstörenden Bann eines unersättlichen Drangs nach Weltbesitz. Bis zum letzten Augenblick bleibt Faust der ewig Unbefriedigte. Nichts liegt ihm ferner als Goethes Lehre von der Entsagung. Ganz anders Wilhelm Meister; nicht von ungefähr trägt der Roman den Untertitel »Die Entsagenden«. Er verzichtet im Zeitalter der »Einseitigkeiten« auf das »Privilegiengefühl« des Subjekts, dient »von unten hinauf«, bildet sich zu einem »Organ« und darf erwarten, »was für eine Stelle dir die Menschheit im allgemeinen Leben wohlmeinend zugestehen werde«. Diese Stelle ist der bescheidene Beruf des Wundarztes. Am Schluss steht deshalb das Bild, in dem der väterliche Wundarzt seinem Sohn Felix das Leben rettet.Beide Werke schreiben gegen den Tod an. In der merkwürdigen Bewegung durch das Sonnensystem, das die »Wanderjahre« der geheimnisvollen Figur der Makarie zuschreiben, chiffriert Goethe seinen Glauben an die Unsterblichkeit der großen Entelechie ebenso wie im Finale des »Faust« mit Himmelfahrt und Erlösung des »Unglücksmannes«. Goethe selbst sagte am 4. Februar 1829 zu Eckermann: »Die Überzeugung unserer Fortdauer entspringt mir aus dem Begriff der Tätigkeit; denn wenn ich bis an mein Ende rastlos wirke, so ist die Natur verpflichtet, mir eine andere Form des Daseins anzuweisen, wenn die jetzige meinem Geist nicht ferner auszuhalten vermag.«Prof. Dr. Hans-Jürgen SchingsSchulz, Gerhard: Die deutsche Literatur zwischen Französischer Revolution und Restauration, Band 1: Das Zeitalter der Französischen Revolution. 1789—1806. Band 2: Das Zeitalter der Napoleonischen Kriege und der Restauration. 1806—1830. München 1983—89.
Universal-Lexikon. 2012.